Das Interview | Dirigent Martin Kirchharz feiert 15 Jahre im Uniorchester Bonn – Camerata musicale

Im Wintersemester 2008/09 wechselte die Leitung des Uniorchesters Bonn – Camerata musicale: Student Martin Kirchharz wurde mit nur 24 Jahren zu einem der jüngsten Dirigenten eines Uniorchesters in Deutschland. Wie sich das Orchester seitdem entwickelt hat, was Martin am meisten an der Arbeit mit uns schätzt und gegen welchen Gegenstand er seinen Taktstock tauschen würde, wenn er kein Dirigent geworden wäre: All das und mehr erfahrt Ihr hier.

Martin, fangen wir ganz vorne an: Wie kam es dazu, dass Du Dirigent des Uniorchesters Bonn – Camerata musicale geworden bist? Wie kam die Verbindung zustande?

Seit 2005 habe ich regelmäßig mit den Holzbläsern gearbeitet – als Dozent. Zu dieser Zeit habe ich übrigens an der Uni Bonn Musikwissenschaften studiert (und mich ausgiebig mit Bach beschäftigt). Im September 2008 kam schließlich das Angebot des damaligen Leiters Michael Küßner, das Orchester als Dirigent zu übernehmen.

2008, im gleichen Jahr, hast Du an der Hochschule für Musik und Tanz Köln dein Studium der Schulmusik aufgenommen – hat Dich unser Orchester in dem Wunsch bestärkt, Dirigent werden zu wollen?

Jein. Dirigieren hat mich schon immer interessiert: 2004 habe ich angefangen, Lehrgänge „Dirigieren“ und Meisterkurse zu absolvieren. Zusätzlich habe ich privaten Dirigierunterricht genommen. Neben dem Schulmusikstudium in Köln hat die Arbeit mit der Camerata mich definitiv in meinem Vorhaben zusätzlich bestärkt.

Wenn Du diesen Weg nicht eingeschlagen hättest, also kein Dirigent geworden wärst, was würdest Du dann heute tun?

Vielleicht hätte ich als Koch ein eigenes, schönes Restaurant? Und damit hätte ich ähnlich herausfordernde Arbeitszeiten wie jetzt! Also: Kochlöffel statt Taktstock! [lacht]

Aber wir freuen uns sehr, dass Du doch Dirigent geworden und bei uns bist! Was würdest Du sagen, wenn Du deine 15 Jahre mit uns betrachtest, was hast Du bisher aus Deiner Arbeit mit uns mitgenommen? Was machst Du vielleicht anders als früher?

Da gibt es zwei Dinge, die mir sofort einfallen: Auf der organisatorischen Ebene habe ich sehr viel über die Einbettung unseres Handelns in das übergeordnete Interesse der Universität gelernt und lege noch mehr Wert auf gute Kooperationen bzw. spüre Synergien auf. Auf der anderen Seite hat sich meine musikalische Arbeit mit dem Ensemble gewandelt: Während ich zu Beginn stärkeres Gewicht auf die eher pädagogische Seite gelegt habe, hat sich das Orchester über die Jahre so hervorragend entwickelt, dass ich inzwischen viel mehr künstlerisch arbeiten kann. Ich kann ganz andere musikalische Dinge von den Studierenden einfordern und herauskitzeln, das genieße ich sehr!

 © Stefan Wiede

Was gefällt Dir an der Arbeit mit einem Studierendenorchester?

Dass die Leute schnell wieder weg sind! [lacht] Nein, Spaß beiseite. Ich schätze sehr, dass ich mit jungen Menschen arbeiten kann, die unseren Projekten mit einer großen Offenheit begegnen. Die Fluktuation ist tatsächlich auch eine Chance: Man entwickelt sich stetig weiter, lernt immer wieder neue, gute Leute kennen und hat grundsätzlich keine Nachwuchssorgen im Ensemble. Zumindest, wenn man attraktive Projekte am Start hat, auf die die Studierenden Lust haben – das ist eine Herausforderung, aber gleichzeitig auch das, was mich am meisten daran reizt: Im Uniorchester Bonn – Camerata musicale spielen junge Menschen, die motiviert sind neben ihrem Studium ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. Das Orchester ist ja keine Pflichtveranstaltung, sondern hundert Prozent freie Wahl – wer keine Lust hat, kann einfach gehen. Umso schöner, wenn genau das nicht passiert und wir sogar weiter wachsen!

Gibt es aus Deiner Sicht auch Nachteile? Was gefällt Dir weniger?

Das klingt jetzt widersprüchlich: die Fluktuation. Sie ist eine Chance, aber auch ein Fluch und führt zu Abschieden, obwohl man eigentlich gerne alle noch viel länger im Orchester haben würde!

Wo wir jetzt schon mittendrin sind in der Arbeit mit dem Orchester: Wir bestimmen über unsere Programme demokratisch. Kannst Du mehr zu diesem Modus und der Geschichte dahinter erzählen?

Als ich vor 15 Jahren angefangen habe, kam der Anruf im September, und im Oktober gings sofort los mit der Probenphase. Da blieb keine Zeit für eine Abstimmung. Die ersten fünf Jahre habe ich das Orchester immer besser kennengelernt und die Stückauswahl getroffen, die ich für passend und machbar hielt zum jeweiligen Zeitpunkt. Nach und nach kamen Wünsche aus dem Orchester – bis 2013 im Sommersemester das erste Wunschstück auf dem Probenplan stand: Dvořáks 8. Sinfonie! Von da an hat das Orchester eine Weile demokratisch über das Hauptwerk abgestimmt und ich habe ein passendes Programm „dazu gestrickt“. Das ist oft gar nicht so einfach, aber sehr wichtig, denn ein gutes Konzert verfügt immer über einen künstlerisch roten Faden. Aber auch dieser Modus war (noch) nicht allumfassend zufriedenstellend.

Ist Dir an unserer bisherigen Stückauswahl etwas aufgefallen?

Ihr habt auf jeden Fall eine sehr „romantische“ Ader und Euch bislang eigentlich immer für Werke großer Meister der Romantik entschieden: Tschaikowsky, Brahms, Dvořák, Mahler, Rachmaninoff… Die ausgefalleneren, nicht so bekannten Werke habe dann meist ich zum Programm beigesteuert. Mittlerweile kommen aber mehr und mehr Stücke auf die Wunschliste, die ich bis dato nicht kannte – das finde ich sehr schön.

Ich höre heraus: Das Orchester hat sich aus Deiner Sicht so weiterentwickelt, dass Du uns auch Werke in dieser Größenordnung zutraust – hättest Du das 2008 vorhergesehen?

Nein. Dass wir Bruckner 6, Mahler 1 oder jetzt Dvořáks 9. einmal so spielen würden, hätte ich 2008 nicht zu träumen gewagt. Ich bin unglaublich stolz und glücklich über diese Entwicklung. Dies hat letztendlich zum aktuellen Modus der Programmfindung geführt: Aus allen musikalischen Wünschen kreiere ich inzwischen drei vollständige Programme, über die abgestimmt wird. Dabei „muss“ ich nur noch kleine Lücken ergänzen mit Stücken, die dem roten Faden im Programm dienlich sind. Brückenstücke, sozusagen. Die Frage ist nicht mehr, „ob“ wir ein Stück spielen können, sondern „wie“.

 © Julia Holland

Eine Brücke der anderen Art haben wir 2022 erstmals mit „Singfonie – Das Partykonzert“ geschlagen – ein neues Konzertformat, bei dem wir Popklassiker spielen und zum Karaoke-Orchester werden! Im Oktober 2023 konnte das Kultevent schon zum zweiten Mal stattfinden. Wie kamst Du auf diese tolle Idee?

Die Ursprungsidee ist ein Import aus dem Norden: Eine unserer damaligen Oboistinnen – übrigens diejenige, die mich 2005 für die Satzproben der Camerata als Dozent gewonnen hatte! – studierte in Hamburg, hatte dort bei einem Orchesterkaraoke-Event mitgemacht und begeistert davon berichtet. Ich fand, das klang ziemlich witzig – allerdings musste ich schnell feststellen: Es gibt keinerlei Notenmaterial auf dem Markt, Projekte in den Semesterpausen sind oft schwierig, weil nicht alle Musiker:innen Zeit haben … und schon landete die Idee auf der langen Bank. Bis unser Rektor Michael Hoch uns Ensembleleiter:innen in regelmäßigen Gesprächen zu neuen, ungewöhnlichen Konzertformaten ermutigte, bei denen wir ruhig „Out of the Box“ denken sollen. Und da war das verrückte Konzept plötzlich wieder ganz prominent in meinem Kopf. Wie es der Zufall wollte, meldete sich ungefähr zu dieser Zeit das NatFak-Festival bei uns mit einer Anfrage für die musikalische Begleitung ihres beliebten Winterballs. Das war für uns nicht möglich, aber ich schlug ihnen stattdessen vor, als Kooperationspartner eines Partykonzertes mit Orchesterkaraoke einzusteigen. Mit dem NatFak-Festival waren genau die Leute an Bord, die für das Konzept zusätzlich wichtig sind: Partner mit Erfahrung in der Festival-/Pop-Event-Organisation, in Verbindung mit der Studierendenschaft an unserer Uni. Und der Rest ist Geschichte…

Ein kleines Detail hast Du noch ausgelassen: Was ist denn aus dem fehlenden Notenmaterial geworden?

Sagen wir mal so: Ich war im Vorfeld zu beiden Singfonien sehr beschäftigt… Inzwischen sind 16 Stücke zusammengekommen, die ich speziell für die Partykonzerte arrangiert habe. Sehr aufwendig, wenig lukrativ, aber dennoch sehr lohnend.

Lohnend – und aufwendig in der Organisation – sind auch Konzertreisen. 2019 haben wir gemeinsam mit der Geigerin Liv Migdal Schottland bereist und an unserer Partneruniversität St Andrews ein Konzert gespielt. Sind in der nächsten Zeit weitere Reisen geplant?

Schottland war ein absolutes Highlight, das stimmt! Zudem fand diese Reise im Rahmen des Rektoratsbesuches in St Andrews und in unserem 50. Jubiläumsjahr statt. Wir, sowie alle anderen Ensembles unter dem Dach des Forums Musik, sind in der glücklichen Lage, bei Konzertreisen unterstützt und gefördert zu werden. Das ist unglaublich wertvoll. Aktuell planen wir eine Konzertreise nach Frankreich, mit Gegenbesuch eines Studierendenorchesters aus dem Nachbarland.

Jetzt sind wir schon bei einem Ausblick gelandet: Kannst Du noch mehr darüber verraten, was Du in nächster Zeit mit dem Uniorchester Bonn – Camerata musicale vorhast, erreichen möchtest oder Dir wünschst?

Neben der anstehenden Konzertreise im nächsten Jahr ist es mir generell wichtig, die Vernetzung zu Partnern inner- und außerhalb der Universität Bonn, in unserer Stadt und darüber hinaus weiter zu vertiefen. Grundsätzlich bin ich sehr, sehr zufrieden und würde sagen: Es kann alles gerne so weitergehen. Die Entwicklung des Orchesters ist großartig, und ich habe Lust, viele weitere tolle Projekte anzugehen!

 © Julia Holland

Zum Abschluss ein großes Dankeschön im Namen des gesamten Orchesters an Dich für Deine fantastische Arbeit! Wir sind froh, Dich als unseren Dirigenten zu haben!

Ich bin auch sehr dankbar. Wir haben es in den letzten 15 Jahren geschafft, so mein Eindruck, auf Augenhöhe zu proben, freundschaftlich, aber sehr konzentriert und in „arbeitswütiger“ Atmosphäre (im ausgesprochen positiven Wortsinn!). Ich freue mich über alle, die im Uniorchester Bonn – Camerata musicale mitspielen – und kenne nicht ohne Grund jeden einzelnen Namen!

Das Interview führte Sonja Schöbitz (Vorstand Uniorchester Bonn – Camerata musicale).